Da lag Gerrat hinter dem schwarzen Tuch. Lag, als ob er erst gestern gestorben wäre, und war doch ohne jeden Zweifel tot. Seine Haut war so gelb wie alte Milch und glänzte wächsern, seine Augen waren geschlossen, seine Wangen eingefallen. Seine schönen dunklen Locken klebten zusammen wie nach einem langen Ritt; sein Bart war sauber gestutzt, nirgends auch nur ein Tropfen Blut zu sehen - Hana zog das Tuch fort, das Gerrats Körper bedeckte, er trug seine Rüstung darunter oder eine, die man ihm angezogen hatte, damit man die Wunden nicht sah. Seine Hände waren über dem Herzen gefaltet. Es war ein friedlicher Anblick, der nicht passen mochte zu einem Mann, der sein Leben im Krieg gelassen hatte - kein schöner Anblick, es gab keine Schönheit im Tod, nur stille Perfektion.
aus: »Falkenwinter« von Maja Ilisch
Lebensdaten
Name: Gerrat von Vigilanders Blute
Todesdatum: ca. März 2009
Todesursache: Im Krieg erschlagen
Alter zum Zeitpunkt des Todes: 26 Jahre
War es Mord? Nein
Kurzbiographie
Als Erstgeborener des Königs von Doubladir - und welch ein Glück! Es ist ein Junge! - wurde Gerrat schon früh in seine späteren Aufgaben als König und Feldherr eingeführt. Auf eine harte Probe wurde er im Alter von zehn Jahren gestellt, als seine Mutter die Familie verlies und Gerrat plötzlich nicht nur für seine beiden jüngeren Geschwister verantwortlich sein mußte, sondern auch noch mit einem Bastard seines Vaters im Haus leben. Während sich der König vorwiegend um Jagd und Kriegsführung kümmerte, wuchsen die "richtigen" Geschwister eng zusammen, und auch als Erwachsene verband Gerrat vor allem mit seinem jüngeren Bruder Dannen eine enge Freundschaft.
Zumindest solange, bis Gerrat Dannen erst eine Beziehung zu der noch nicht einmal bürgerlichen Falknerin Hana ausredete, nur um dann selbst mit der jungen Frau anzubandeln. Daß Hana nicht das geringste Interesse an Dannen zeigte - egal. Verrat war Verrat und die Beziehung zwischen den Brüdern nicht mehr zu kitten. Vor allem, als sich Hana als schwanger entpuppte und eilig mit Gerrat verlobt wurde, um ihn nach gewonnenem Krieg zu heiraten... Aber dazu kam es nicht mehr. Dieser Krieg sollte Gerrats letzter sein.
Umstände des Todes
Im Tod hatte Gerrat doppeltes Pech: Zum einen lebte er nicht einmal mehr bis zur entscheidenden großen Schlacht, die dann auch seinen Vater und den König der Gegenseite das Leben kosten sollte, sondern starb bereits in den ersten Kriegswochen, als seine Einheit in einen Hinterhalt geriet. Loringaril, bekannt für seine Stärke, verfügte nicht nur über ein großes Heer, sondern auch über kleine Truppen von Partisanen, Bauern und Deserteuren, die den Krieg hintenrum zu entscheiden suchten. Fremd und in Feindesland, fehlte Gerrat der Vorteil des Heimatterritoriums, und daß sein treues Pferd an seiner Seite starb und er selbst als Held, war dann wohl doch nur ein schwacher Trost.
Schlimmer noch aber war für Gerrat, daß er zwischen den Szenen sterben mußte: Er war nun einmal keine Hauptfigur, diese Ehre gebührte Dannen, der sich zu dem Zeitpunkt fernab des Krieges im Hochland von Doubladir aufhielt, und ebenso wie Dannen nur durch einen Brief vom Tod seines Bruders erfuhr, bekamen auch die Leser Gerrat erst wieder zu Gesicht, als er in Begleitung einer Totenmagd in die Heimat überführt wurde.
Würdigung
Gerrat war ein Mann, wie man ihn sich nur wünschen konnte: Seinem Vater ein treuer Sohn, seinem König ein tapferer Streiter, seinen Frauen ein leidenschaftlicher Liebhaber. Stets aufrecht und ehrlich, war ihm Zögern und Zaudern fremd - er war ein Macher, einer, der anpackte. Hartes Schicksal hat ihn niemals eingeschüchtert, von Kindesbeinen an war er daran gewöhnt, Verantwortung zu übernehmen und zu seinem Wort zu stehen. Doubladir verliert an ihm einen großen Fürsten, der einen noch größeren König abgegeben hätte, wäre nicht das Schicksal auf der Seite seiner Feinde gewesen. Gerrat hinterläßt eine bezaubernde Verlobte, ein ungeborenes Kind und einen jüngeren Bruder, der noch lernen muß, in diesen ihm viel zu großen Fußspuren voranzuschreiten. Er mag tot sein, doch in seinen Taten lebt er weiter.
Rolle des Autors
Leider ist Gerrat aufgetreten um zu sterben. Zwar sind fünf Jahre vergangen zwischen seinem ersten Auftreten im vierten Kapitel von
Dämmervogel und dem seiner Leiche in
Falkenwinter, aber all die Zeit über hing sein Schicksal wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf. Jeder Satz, den ich Gerrat sagen ließ, war der Satz eines Todesgeweihten, aber vielleicht war es genau das, was ihm ein für einen Charakter von mir seltenes Glück widerfahren ließ: Er durfte ein positiver Charakter sein. Kein dumpfer Brüter wie Dannen, diese alte Pißnelke, oder der schizophrenen Varyn oder irgendeine andere typische Figur, sondern ein positiver, aufrechter Kerl. Auch wenn Dannen ihn als Verräter betrachtet und es nicht unbedingt die feine Art von Gerrat war, sich Hana in genau dieser Situation zu angeln, gibt es wenig, was man ihm wirklich vorwerfen könnte.
Trotzdem, oder gerade deswegen, hatte ich nie ein inniges Verhältnis zu ihm - er war am Ende nur eine literarische Wegwerfflasche, erschaffen nur, um mit seinem Tod Dannen in ein Dilemma zu stürzen. Und so habe ich am Ende kaum oder gar nicht um ihn getrauert, so ungern ich das auch zugebe. Aber ich habe es mir ja auch einfach gemacht und ihn //off camera// sterben lassen. Hätte ihm ihm das Schwert selbst ins Herz rammen müssen... Nein, daran mag ihn nicht denken. So ist er nur eine besonders pflegeleichte Leiche geworden.
Rechtfertigung
Wie bereits erwähnt, war Gerrat nur ein Instrument, um den Plot in die richtige Position zu bringen, aber ist das nicht eigentlich das Beste, was man über einen Charakter sagen kann - daß er den Plot vorantreibt? So ist es nicht Gerrats Tod, den ich rechtfertigen muß, sondern sein Leben: Ist es moralisch gerechtfertigt, jemanden nur auftreten zu lassen, um ihn zu töten? Es ging von Anfang an nur um Dannen, dem ich schaden wollte: Dannen, der die Frau seines Herzens erst nicht bekommt und sie dann doch heiraten muß, weil sie ein Kind erwartet, das nicht unehelich geboren werden darf, Dannen, der nur der Zweitgeborene ist und am Ende doch um einen Thron kämpfen muß, den er eigentlich gar nicht haben will, Dannen, der aufhört, an das Glück zu glauben, weil er im Leben immer nur Pech gehabt hat. Und weil man Schatten nur dort sehen kann, wo auch Licht ist, mußte hier ein Gerrat her, der das Glück gepachtet hat und der alles richtig gemacht hat im Leben - auch wenn es bedeutet, daß er genau das verlieren muß.