»Leslie, du kannst nichts mehr tun!«, Timbers Stimme klang so rau, wie sich Leslies Inneres anfühlte. Und sie wusste, dass die Soldatin Recht hatte. Aber sie weigerte sich, es offen zuzugeben, denn das hätte bedeutet, das Kind aufzugeben und zurückzulassen.
»Leslie …«, drängte Timber, »Sie liegt im Sterben! Und wir brauchen dich noch, geh!«
»Nein, ich lasse sie nicht alleine!«, erwiderte Leslie mit brechender Stimme, »Ich will nicht, dass sie voller Angst gehen muss!«
Timber nickte. »Geh du, ich bleibe bei ihr!«, befahl sie knapp.
Alles in Leslie sträubte sich. Sie wollte das Mädchen nicht aufgeben. Jetzt zu gehen, hätte bedeutet, den Tod zu akzeptieren, den sie nicht akzeptieren wollte!
Timber sah sie an, die dunklen Augen waren traurig: »Leslie, wir brauchen dich! Wenn du hier fällst, ist alles verloren! Bitte, geh!«
Leslie kam gegen diese Argumentation nicht mehr an, mit einem trockenen Schluchzen kämpfte sie sich auf die Füße und stolperte davon. Als sie zurücksah, hatte sich Timber neben das Mädchen gekniet und das sterbende Kind behutsam hochgenommen und an sich gedrückt.
Leslie wusste nicht, wie weit sie von den beiden weg war, als sie einen Schuss hörte. Und eisig kalt griff die Ahnung nach ihr, dass diese Kugel keinem Feind gegolten hatte, sondern Timber das Sterben des Mädchens abgekürzt hatte.
Leslie schüttelte diese Gedanken ab, sie waren zu grausam, um sie zu ertragen.
aus: »Innocence lost« von Claudia Mayer
Lebensdaten
Name: Lynda Walker
Todesdatum: November 2013
Todesursache: Kopfschuss
Alter zum Zeitpunkt des Todes: 6 Jahre
War es Mord: Nein
Kurzbiographie
Lyndas Leben wurde von einigen Schicksalsschlägen überschattet. Ihr Vater starb an den Folgen von Kriegsverletzungen, als sie zwei Jahre alt war. Ihre Mutter verunglückte zwei Jahre darauf bei einem Arbeitsunfall tödlich. Freunde ihrer Eltern nahmen Lynda bei sich auf und gaben ihr ein neues Zuhause. Als sie sechs war, wurde sie in der Schule von einem Lehrer sexuell missbraucht und sollte aufgrund der geltenden Gesetze euthanasiert werden. Sie wurde gerettet und lebte noch ein gutes halbes Jahr in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war, ehe sie dem Kugelhagel der Angreifer zum Opfer fiel.
Umstände des Todes
Lynda und etliche andere Kinder wurden von den Menschen in Greenvale versteckt gehalten, um nicht den geltenden Euthanasiegesetzen zum Opfer zu fallen. Deswegen stürmt die Armee den Ort, in dem sie sich verschanzt haben. Bei dem Versuch, von einem Versteck ins andere zu fliehen, wird Lynda in den Bauch geschossen. Da es den Rebellen nicht möglich ist, sie zu operieren, ist sie damit sicher dem Tod geweiht. Timber, eine der Kämpferinnen auf Seiten der Rebellen will Lynda den länger andauernden, qualvollen Todeskampf ersparen und setzt dem beinahe schon bewusstlosen Kind einen Kopfschuss.
Würdigung
Lynda war noch sehr jung, als sie sterben musste, aber sie war ein unheimlich positiver Charakter, der alle in den Bann schlug. Jeder, der sie kannte, hatte sie gern und trotz der schlechten Erfahrungen, die sie gemacht hat, glaubte sie unerschütterlich daran, dass das Gute immer siegen würde. Sie wollte eines Tages selbst ein Kinderheim leiten, um Kindern wie sie selbst eines war, ein Zuhause geben zu können, in dem sie keine Angst haben müssen. Und sie hat in den wenigen Zeilen die sie hat eine unglaubliche Präsenz!
Rolle des Autors
Figuren töten macht mir eigentlich nichts aus, Kinder töte ich jedoch ungern. Und bei Lynda fiel mir das erst Recht unheimlich schwer. Sie hat in den wenigen Zeilen, in denen sie vorkommt, einfach so viel Positives ausgestrahlt, dass es mir tatsächlich wehgetan hat, sie umbringen zu müssen.
Ich habe nicht nah am Wasser gebaut, aber ich bin bei ihrem Tod trotzdem ein bisschen schniefig geworden.
Gern habe ich diese Szene nicht geschrieben, aber ich glaube, dass sie mir gelungen ist.
Rechtfertigung
Lynda war einer der Charaktere, die erschaffen werden, um zu sterben. Es musste auch einmal die Kinder erwischen. Ich brauchte einen Trigger für die folgende Handlung, die sich niemals so schnell und niemals auf diese Weise zugespitzt hätte, wenn ich Lynda am Leben gelassen hätte. Die Szene macht mich immer noch traurig, obwohl ich sie, im Vergleich zu anderen Figuren wirklich gnädig abgehen lassen habe. Aber sie ist ein Kind und sie ist süß und unschuldig und so bleibt mir nur die von Autoren oft gebrauchte Rechtfertigung: "Der Plot brauchte es so!" In dem Fall bekenne ich mich schuldig, keine kreativere Rechtfertigung zu haben!